Die Internet-Katastrophe Version 2.5
Oder auch: Der Hambuger Schaufelsturz
Mit erstaunlicher Gleichförmigkeit sind die Katastrophen
inzwischen zum Medien- und vor allem Internet-Ereignis geworden. Sie haben
längst die Diskussionen um aktuelle Tatort-Folgen überholt.
Nehmen wir den Fall, dass in Hamburg zum Zeitpunkt T eine
Schaufel umkippte.
Wenn die Schaufel festgehalten wird, dann kann sie nicht umkippen! |
T+1 Minuten: Ein vermeintlicher Augenzeuge twittert: „Direkt
vor meinen Augen ist eine Schaufel umgekippt. Keiner hilft. Höre Sirenen. #HH
#Schaufel #Grauen #Chaos“
T+10 Minuten: Bild.de nimmt erste „Eilmeldung“ auf die
Startseite. Noch ist es nur ein „möglicher Schaufelfall“, aber mutmaßlich muss
es „Opfer gegeben“ haben.
T+11 Minuten: Focus.de, Welt.de und Spiegel.de übernehmen
die Nachricht und reichern die Meldung mit der Anmerkung „Tote und Verletzte
können bisher nicht ausgeschlossen werden“ an. In der Medienstadt Hamburg kommt
in vielen Redaktionen Festtagsstimmung auf. Der NDR bucht zusätzlich
Satelliten-Kapazitäten.
T+15 Minuten: Bild.de richtet einen Liveticker ein. Überschrift:
„Die Schaufelhölle von Hamburg“. Andere Seiten ziehen wenige Sekunden später nach
und bereiten einen Opfer-Zähler vor.
T+16 Minuten: Bei Facebook wird die Gruppe „In Gedenken an
die Opfer vom Schaufelfall von Hamburg“ eingerichtet und erreicht innerhalb
weniger Minuten über 100.000 Likes.
T+20 Minuten: In den Kommentaren der Gruppe „In tiefer
Trauer über die Opfer von Hamburg“ tauchen erste kritische Untertöne dazu auf,
dass hier doch nur auf Kosten der Opfer nach Likes und Hits gefischt werden
soll. Noch werden diese mit dem Kommentar „das würdest Du nicht schreiben, wenn
Du selber jemand Lieben in Hamburg verloren hättest“ klein gehalten.
T+30 Minuten: Bild.de meldet endlich „Bild-Reporter ist
Vorort“. Was daraus folgt bleibt zunächst offen.
T+35 Minuten: Alle einschlägigen Newsseiten haben ihre
Schaufel-Experten aus dem Urlaub zurück beordert und bringen erste Fotostrecken
zu der Geschichte der Schaufel im Allgemeinen und der Hamburger Schaufel im
Besonderen.
T+36 Minuten: Bild.de packt wie zufällig die Bildstrecke
„Die größten Katastrohen der Menschheit“ auf die Startseite. Die schon fertig
gestellte Recherche zu „Deutschlands größte Porno-Hoffnungen“ kann erst durch
Scrollen erreicht werden.
T+40 Minuten: Die Experten sind in den Redaktionen
angekommen und bekunden in ersten Kurzzitaten in den Livetickern wie schlimm so
eine umgefallene Schaufel sein kann und was das für die Opfer und deren
Angehörigen bedeutet.
T+45 Minuten: Opferverbände appellieren an die Medien, die
Privatsphäre aller Betroffener zu beachten und die Arbeiten der Rettungsmannschaften
nicht zu behindern. Der Appell wird in den Livetickern mangels sonstiger
Informationen ungekürzt widergegeben.
T+46 Minuten: Bild.de und Focus.de bemängeln fast
wortgleich, dass es immer noch keine offiziellen Aussagen der Behörden gäbe und
die Rettungskräfte vor Ort bisher nicht zu einer Stellungnahme zum Ausmaß der
Katastrophe bereit gewesen sein. Durch die Hamburger Innenstadt irren dutzende
Fernsehteams umher und beginnen schließlich verzweifelt sich gegenseitig zu
ihren Schaufelerfahrungen zu interviewen.
T+47 Minuten: Die Fotostrecken werden mit Bildern aus
Facebook-Profilen von potentiellen Opfern angereichert. Eine Schaufel, die im
Sommer 2012 beim Bau der U4 eingesetzt wurde, wird als möglicher Täter
vorgestellt: „Ist das die Monster-Schaufel
von Hamburg-Altona?“
T+48 Minuten: Erste Videobilder tauchen bei YouTube auf,
werden bei Facebook und Twitter millionenfach verlinkt und bei NTV mit der
Einblendung „Quelle: Internet“ gesendet. Erst Stunden später wird auffallen,
dass es sich um im Kino abgefilmte Szenen aus einem Roland Emmerich-Film
handelt.
T+49 Minuten: RTL bietet Heiner Lauterbach als
Katastrophen-Experten auf. Er erzählt noch einmal wie schwierig die
Dreharbeiten für den Film „Helden – Wenn Dein Land dich braucht“ waren und er
sehr gut nachfühlen könne, was da gerade in Hamburg los sei. Schließlich sei er
in dem TV-Event „Der Kanzler“ gewesen.
T+50 Minuten: Die ARD kündigt einen Brennpunkt-Spezial an.
Das ZDF unterbricht zeitgleich das aktuelle Programm und stellt stolz fest, schon
45 Minuten früher als die ARD ein Heute-Spezial zu senden.
T+60 Minuten: Führende Politiker der CSU versprechen eine
„schonungslose Aufklärung“ und „unbürokratische Hilfe“. Seehofer überwindet
alle Querelen rund um den Länderfinanzausgleich und bietet an „für Hamburg zu
beten“.
T+61 Minuten: Die SPD verspricht Gesetzesänderungen.
T+62 Minuten: Die Grünen bitten darum, Schaufeln nicht
generell zu stigmatisieren und erst einmal die Ermittlungen abzuwarten.
T+63 Minuten: Die NPD fordert die „Abschiebung krimineller
Schaufeln aus nicht EU-Produktion“ und ist sich sicher, dass deutsche Schaufeln
niemals umkippen.
T+70 Minuten: „Der Postillon“ veröffentlicht einen provokanten Satirebeitrag darüber, dass Twitter-Einträge wie „Heute sind wir
alle Hamburger. Ich denke an Euch“ die Opferzahlen nur unmerklich verändern.
T+71 Minuten: Die Kommentarfunktion der Facebook-Seite von
„Der Postillon“ quillt über von Nachrichten wie „Menschenverachtend“, „War ja
bisher immer ein Fan der Seite, aber …“, „Was sind das für Idioten, die keine
Satire begreifen“ und „Ich hol schon mal das Popcorn aus der Mikrowelle“.
T+72 Minuten: Bei
Twitter ist der Hashtag #MitmeinenGedankenundGebetenbeiHamburg nun vor
#Cyrusnude.
T+75 Minuten: Die Schaufel-Innung bekundet, dass deutsche
Schaufeln tatsächlich sicher sein, man aber mit der NPD nichts zu tun habe.
Außerdem werden Spendenkonten benannt.
T+83 Minuten: Der Liveticker von Bild.de kommt unverhofft
ins Stocken. Doch dann kündigt die Stadt Hamburg eine Pressekonferenz in 20 Minuten
an. Sofort werden die Liveticker mit einer Count-Down-Uhr versehen.
T+85 Minuten: Redakteure bereiten Unterseiten wie „Jetzt
spricht die Mutter der Schaufel“, „Das Protokoll vom Hamburger Schaufelsturz“
und „Ist meine Schaufel noch sicher?“ vor.
T+90 Minuten: Das Thema der Talkshow von Günther Jauch wird
spontan auf „Wenn die Schaufel wackelt“ geändert. Heiner Geißler, Micaela
Schäfer und Franzi van Almsick bleiben die Gäste.
T+95 Minuten: Immer mehr wacklige Handy-Videos tauchen bei
YouTube auf und zeigen den Hamburger Rathausplatz in den Wochen vor der
Katastrophe. Titel sind „Gerade noch einmal davon gekommen“ oder „Unglaublich,
ich hätte auch ein Opfer sein können“.
T+100 Minuten: Bei Twitter nehmen die Einträge zu, in denen
bemängelt wird, dass der Aufschrei wegen einer Hamburger Schaufel doch viel zu
groß sei, obwohl ständig in dieser Welt Schaufeln umkippen würden, ohne dass
die Medien hierüber berichteten. In China seien sogar mal mehrere Säcke Reis
umgefallen und die Tagesthemen hätten hierüber allenfalls durch Gundula Gause
zwischen den Hauptnachrichten etwas gebracht.
T+102 Minuten: Bild.de mutmaßt, dass nunmehr auch die
Bewerbung um die Fußball-EM 2024 in Gefahr geraten könnte. Bei Facebook erhält
die Gruppe „Alle EM-Spiele in Hamburg – Jetzt erst recht“ reißenden Zulauf. Andere
Seiten zitieren den Bild-Artikel mit den Worten „Die Fifa prüfe angeblich
aktuell …“
T+103 Minuten: Die Count-Down-Uhren laufen ab. Livereporter
im Hamburger Rathaus werden hektisch auf Sendung bzw. den Livestream gegeben.
Atemlos wird davon berichtet, dass Ordner gerade Wasser auf den Tischen
verteilen, was ein eindeutiges Zeichen dafür sei, „dass es gleich losgehen
muss“.
T+115 Minuten: Der regierende Bürgermeister dankt den
Helfern. Die Schaufel sei geborgen und an einen sicheren Ort gebracht worden.
Ihre Identität stehe noch nicht eindeutig fest.
T+120 Minuten: Der regierende Bürgermeister erklärt auf
Nachfrage, dass es zum Glück keine Opfer gegeben habe. Nicht einmal die
Schaufel habe einen Kratzer abbekommen.
T+120 Minuten und 30 Sekunden: Die Übertragungen aus dem
Rathaus werden beendet. Dass in diesem Moment zwei Femen-Aktivistinnen mit auf
die Brüste gemalten Baggern gegen die Ausbeutung im Tiefbaugewerbe
protestieren, sehen einige wenige Reporter nur noch aus dem Augenwinkel beim
Zusammenpacken.
T+120 Minuten und 31 Sekunden: Die Liveticker werden
abgeschaltet. Die Bekanntgabe der Kandidaten des diesjährigen „Dschungelcamps“ steht
wieder auf den Startseiten. Die Meldung von der umgefallenen Schaufel wird durch
einen Fünfzeiler von dpa ersetzt. Der Hashtag #ibs übernimmt die Spitze. Günther Jauch talkt nun doch zum Thema "Hilfe, der Bruder meines Onkels ist mein Vater".
T+1 Tag: Mehrere Blogs greifen die Geschichte von der
umgefallenen Schaufel für ihre Medienkritik auf und bemängeln, dass „mit
erstaunlicher Gleichförmigkeit die Katastrophen inzwischen zum Medien und vor
allem Internet-Ereignis geworden“ seien. Sie hätten „längst die Diskussionen um
aktuelle Tatort-Folgen überholt“. Ein
paar Likes greifen sie damit noch ab.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen